Ordnungsvorschrift mit Biss
Generalversammlungen schweizerischer Gesellschaften müssen innert sechs Monaten seit Abschluss des Geschäftsjahres durchgeführt werden. Ein Bundesgerichtsentscheid verleiht dieser bisher eher zahnlosen Bestimmung neue Brisanz.
- Lukas Bühlmann
Zwingende Frist ohne Biss?
Die Regel scheint klar: Die ordentliche Generalversammlung von Gesellschaften findet alljährlich innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss des Geschäftsjahres statt (Art. 699 Abs. 2 OR). Diese zwingende Frist kann nicht durch entsprechende Statutenbestimmungen verlängert werden.
Tatsächlich wird die Frist jedoch oft ausser Acht gelassen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich und reichen von blosser Unkenntnis über grosse Arbeitsbelastung der mit dem Jahresabschluss befassten Organe und Beauftragten bis hin zu sachlichen Gründen, wie beispielsweise Sperrfirsten für Dividendenbeschlüsse. Ein Blick in die gängigen juristischen
Kommentare beruhigt jedoch: Die 6-Monatsfrist ist lediglich eine Ordnungsvorschrift, deren Missachtung weder die Versammlung ungültig noch die gefassten Beschlüsse nichtig macht.
Der Fall: Die vertändelte GV
Das Bundesgericht hatte sich kürzlich mit einem Fall (BGE 4A_496/2021) zu beschäftigen, in welchem die Mehrheitsaktionärin ihre Tochtergesellschaft darauf hinwies, dass die letzte Generalversammlung bereits ca. zwei Jahre zurücklag. Sie verlangte die Einsetzung eines Sachwalters zur Durchführung einer ausserordentlichen Generalversammlung. Entscheidend war die Rechtsfrage, ob das Amt des für ein Jahr bis zur nächsten ordentlichen
Generalversammlung gewählten Verwaltungsrats mit Verstreichen der 6-Monatsfist endete, oder ob sich das Amt stillschweigend bis zur nächsten Wahl verlängert.
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Wahl des Verwaltungsrates eine unentziehbare Kompetenz der Generalversammlung sei und dass diese Kompetenz unterlaufen würde, wenn der Verwaltungsrat sein Mandat durch Nichteinberufung der Generalversammlung verlängern könnte. Das Amt des Verwaltungsrates ende daher mit Ablauf des sechsten Monats nach dem Ende des Geschäftsjahres, wenn die Generalversammlung nicht rechtzeitig durchgeführt oder die Wahl des Verwaltungsrates nicht traktandiert wurde.
Die Folgen: Art. 699 OR kriegt Zähne
Der Entscheid des Bundesgerichts hat für verschiedene Anspruchsgruppen unterschiedliche Folgen: Der Gesellschaft aussenstehende Dritte wie Kunden, Lieferanten, Geschäftspartner, etc. dürfen weiterhin auf den Handelsregistereintrag vertrauen, soweit ihnen nicht aus anderer Quelle bekannt ist, dass die Amtszeit der eingetragenen Verwaltungsräte geendet hat. Die betroffenen Verwaltungsräte selbst sollten sich jedoch gut überlegen, ob sie sich nicht im Handelsregister löschen lassen wollen, da ihre Verantwortlichkeit auch als faktisches (nicht rechtsgültig gewähltes) Organ fortbesteht. Eine Löschung wiederum würde die Gesellschaft selbst bzw. deren Aktionäre betreffen, da das Handelsregisteramt bei Fehlen eines rechtsgültig bestellten Verwaltungsrats einen Organisationsmangel feststellen wird und die Löschung der Gesellschaft aus dem Handelsregister droht. Gesellschaften und ihren Organen ist daher die rechtzeitige Durchführung der Generalversammlung zu empfehlen.