Wesentliche Neuerungen im Schweizer Erbrecht – Besteht Handlungsbedarf?

Wesentliche Neuerungen im Schweizer Erbrecht – Besteht Handlungsbedarf?

Per 1. Januar 2023 tritt in der Schweiz das neue Erbrecht in Kraft. Die von langer Hand geplante Reform entspricht dem Zeitgeist und schafft in vielerlei Hinsicht neue Freiheiten für Erblasser, hat aber auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf bereits getroffene Nachlassplanungen. Insbesondere Personen, die bereits ein Testament oder anderweitige Verfügungen von Todes wegen (z. B. Erbvertrag) getroffen haben, sollten ihre Anordnungen hinsichtlich des neuen Erbrechts überprüfen und gegebenenfalls anpassen oder ergänzen.

  • Sebastian Götz

Ausgangslage

Das Schweizerische Zivilgesetzbuch geht zurück auf die Anfänge des 20. Jahrhunderts und trat im Jahr 1907 in Kraft. Seither hat sich das schweizerische Erbrecht praktisch nicht verändert, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hingegen schon. Insbesondere ist die durchschnittliche Lebenserwartung stark gestiegen, die Ehe hat ihre Monopolstellung in der Partnerschaft verloren, Zweit- und Drittbeziehungen sind häufiger und familiäre Lebensformen vielfältiger geworden. Die Revision des Erbrechts, welche per 1. Januar 2023 in Kraft tritt, soll diesen Tatsachen Rechnung tragen.

Im Zentrum der Revision des Erbrechts steht die Erhöhung der Verfügungsfreiheit des Erblassers respektive der Erblasserin durch eine Verkleinerung der Pflichtteile. Daneben sollen zur Verbesserung der Rechtssicherheit verschiedene in der Vergangenheit umstrittene Punkte gesetzlich geklärt werden.

Was bleibt bestehen?

Wie bisher gilt ohne Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) die gesetzliche Erbfolge der Verwandtschaft des Erblassers gemäss «Parentelen-System»; wenn keine Verwandten bis zum grosselterlichen Stamm vorhanden sind, fällt der Nachlass allenfalls an die letzte Wohnsitzgemeinde des Erblassers.

Was ändert sich?

Nachfolgend finden Sie einen Überblick über die wesentlichsten Änderungen per 1. Januar 2023:

Lockerungen im Pflichtteilsschutz (Art. 471 nZGB)
Der Pflichtteil der Nachkommen wird neu auf die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs reduziert (bisher: drei Viertel). Der Pflichtteil des Ehegatten respektive der Ehegattin bleibt unverändert bei der Hälfte des gesetzlichen Erbanspruchs. Der Pflichtteil der Eltern wird hingegen gänzlich abgeschafft. Sie finden die frei verfügbaren Quoten je nach Konstellation grafisch dargestellt in diesem Artikel (siehe Grafik).

Die Erhöhung der verfügbaren Quote erhöht den Handlungsspielraum eines Erblassers nicht unerheblich. So ist es insbesondere möglich, Begünstigungen des überlebenden Ehegatten oder eines Konkubinatspartners auszudehnen oder weitere Personen als Erben bzw. Vermächtnisnehmer einzusetzen.

Verlust des Pflichtteilsanspruchs bei hängigem Scheidungsverfahren (Art. 472 nZGB)
Ist beim Tod eines Erblassers ein Scheidungsverfahren hängig, so verliert der überlebende Ehegatte seinen Pflichtteilsanspruch, wenn vorab ein gemeinsames Scheidungsbegehren eingeleitet resp. fortgesetzt wurde. Dasselbe gilt, wenn die Ehegatten während mindestens zwei Jahren getrennt voneinander gelebt haben. Wenn eine dieser Bedingungen erfüllt ist gelten die Pflichtteile, wie wenn der Erblasser nicht verheiratet gewesen wäre.

Zu beachten ist, dass in einem solchen Fall lediglich der Pflichtteilsanspruch verloren geht, nicht die gesetzliche Erbenstellung. Somit gilt: Ohne Nachlassregelung in einem Testament oder Erbvertrag gilt das gesetzliche Erbrecht des Ehegatten wie bisher auch während eines Scheidungsverfahrens bis zur Rechtskraft des Scheidungsurteils. Um den überlebenden Ehegatten während eines Scheidungsverfahrens als Erben somit vollständig auszuschliessen, muss der Erblasser dies in einer Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) explizit vorsehen respektive vermerken, dass der überlebende Ehegatte in einem solchen Fall seinen Pflichtteil verliert.

Erhöhung des verfügbaren Teils bei der Nutzniessung / Meistbegünstigung des Ehegatten
respektive der Ehegattin gegenüber gemeinsamen Nachkommen (Art. 473 nZGB)

In der Praxis häufig anzutreffen sind Fälle, in denen sich Ehegatten gegenüber gemeinsamen Nachkommen die Nutzniessung am ganzen Erbteil der gemeinsamen Nachkommen zukommen lassen. Neben dieser Nutzniessung beträgt die verfügbare Quote die Hälfte des Nachlasses (bisher: ein Vierteil des Nachlasses). So kann dieser Teil dem überlebenden Ehegatten zu unbelastetem Eigentum zugesprochen werden (neben der Zuweisung der Nutzniessung an der den gemeinsamen Nachkommen zustehenden Hälfte).

Zu beachten ist, dass die Meistbegünstigung wie bisher in einer Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) vorgesehen werden muss.

Ansprüche aus Pensionskassen und Säule 3a (Art. 476 nZGB)
Guthaben der Säule 3a sind nicht Teil der Erbmasse, sondern werden direkt an die entsprechenden Begünstigten ausbezahlt. Für die Berechnung der Pflichtteile werden solche Guthaben jedoch zum Nachlass hinzugerechnet, was nun explizit gesetzlich geregelt ist.

Lebzeitige Schenkungen (Art. 494 Abs. 3 nZGB)
Neu sind nach Abschluss eines Erbvertrags Schenkungen, die über Gelegenheitsgeschenke hinausgehen, anfechtbar, es sei denn, der Erbvertrag erlaubt solche Schenkungen explizit. Es empfiehlt sich daher, in einem Erbvertrag klar festzuhalten, welche lebzeitigen Schenkungen trotz Erbvertrag zulässig sein sollen und ob diese nachträglich uneingeschränkt möglich sein oder betragsmässig oder empfängerspezifisch eingeschränkt werden sollen.

Gibt es Handlungsbedarf?

Wenn eine bereits bestehende Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) gewisse Erben auf den Pflichtteil setzt (unter Umständen mit Angabe der Quote), stellt sich beim Tod des Erblassers je nach Formulierung die Frage, ob diese Quote auch nach Inkrafttreten des neuen Rechts angewendet werden soll oder ob die neuen Regelungen Anwendung finden sollen. Daneben können sich weitere Unklarheiten ergeben, die im Todesfall zu Diskussionen oder Auseinandersetzungen unter den Erben und Vermächtnisnehmern führen dürften.

Personen, die bereits eine Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) erstellt haben, sind gut beraten, diese im Hinblick auf die Änderungen per 1. Januar 2023 zu überprüfen und gegebenenfalls anzupassen oder zu ergänzen. Wir unterstützen Sie gerne in diesem Prozess und beraten Sie nach Ihren Bedürfnissen. Die Notare der Artaris Advokatur AG können Ihr Testament oder Ihren Erbvertrag öffentlich beurkunden.

Ausblick: Erleichterung Unternehmensnachfolge

Am 10. Juni 2022 hat der Bundesrat zudem die Botschaft zur Unternehmensnachfolge im Erbrecht verabschiedet. Gegenstand und Ziel dieser geplanten Reform ist insbesondere die Erleichterung der familieninternen Unternehmensnachfolge. Wir bleiben für Sie am Ball und informieren Sie gerne an dieser Stelle in einem späteren Beitrag.